Da schäumt die deutsche Literaturkritik in Teilen, greift den Autoren teilweise persönlich in herabwürdigender Weise an, stellt seine Fähigkeit zum Schreiben in Abrede und bezichtigt ihn, Kapital aus der Krankheit seines berühmten und nun wehrlosen Vaters zu ziehen. Namentlich Iris Radisch (Die Zeit) tut sich hier sehr hervor, bezichtigt den Sohn gar des Denunziantentums. Finsternis wohin man schaut. :)
Was ist geschehen? Tilman Jens hat ein Buch über die fortschreitende Demenzerkrankung seines Vaters Walter Jens geschrieben, Demenz – Abschied von meinem Vater. Und da schauen wir jetzt mal hinein:
Schon schnell wird klar, es handelt sich hier auch um eine Innenbetrachtung, dem Selbstbild von Tilman Jens als Tilman Jens, vor allem aber von Tilman Jens als Sohn Walter Jens’, dem berühmten, dem einflussreichen, der “Überfigur”(?). Nach etwa der Hälfte der Lektüre erscheint es, als sei dieses kleine Buch ein Buch über Tilman Jens, weniger eine Arbeit über seinen Vater. Es wird auf fast jeder Seite über die persönlichen Befindlichkeiten des Tilman Jens sinniert, über das Sohn-sein.
Der Behauptung, Walter Jens sei, in jungen Jahren, ein Mitglied der NSDAP gewesen – wobei Walter Jens die angebliche Unterschrift auf einen Mitgliedsantrag nicht erinnern konnte/wollte – wird sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet. Es scheint als wolle Tilman Jens diese nun auf gar keinen Fall wahrhaben. Sein Vater hätte doch, könne nicht, spräche dann…. warum ist das eigentlich solche in Drama? Zur fraglichen Zeit war Walter Jens gerade mal 20 Jahre alt? Würde es ein Bild beschädigen, welches besser unangetastet bleiben soll?
Liest man Walter Jens’ Aufsatz Die Epik der Gegenwart, 1943 von dem 20jährigen in einem Mitteilungsblatt der studentischen “Kameradschaft Herrman von Wissmar” veröffentlicht, dann erscheint eine temporär empfunde Sympathie Walters für die Nazionalsozialisten als wahrscheinlich. Beschwört er doch “Die neue Zeit”. Warum hat er das dann später erfolgreich verdrängt? War das vielleicht Eitelkeit? Der Versuch die eigene, geliebte Position, eine der anerkannten moralischen Instanzen Deutschlands aufrecht zu erhalten? Vielleicht weil man sich in eben dieser Rolle so sehr gefällt? Ich weiß es nicht, es wäre aber nur allzumenschlich und verständlich.
Anhand dieses Buches wird ein – typisch deutsches (?) – Problem sehr deutlich: Erkrankt ein Mensch so stark, dass er/sie fürderhin kein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft, funktionierend nach deren eigenen Maßstäben, darstellt, dann wird dieser Umstand der Erkrankung gern verdrängt, darüber zu sprechen wird gar als “unanständig” empfunden. Gerade im Kontext mit den Reaktionen der Literaturkritik auf dieses Buch betrachtet erscheint es so, als wäre ein Verschweigen, ein unter-den-Teppich-kehren, der einzig akzeptable Umgang mit einer solchen Erkrankung.
Das ist gelebte Praxis in unserem schönen heilen bundesdeutschen Welt. Millionen von Menschen teilen das Schicksal Walter Jens’, die meisten kein bisschen prominent. Und diese fallen aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung heraus. Schweigen, daran vorbei schauen, ignorieren, ausblenden. Schwere Erkrankungen sind tabuisiert. In der Regel ist höchstens eine,die denkbar schlimmste, Reaktion möglich: Mitleid. Betrachtet man die öffentlichen Reaktionen auf das Buch in diesem Licht, werden sie etwas greifbarer, verständlicher, nicht aber besser! Letztendlich werfen sie ja Licht auf ein schweres gesellschaftliches Defizit.
Nach gut der Hälfte des Buches habe ich aufgegeben. Es ist nicht erkennbar,ob sich diese Lektüre weiterhin um das Jens-Jens’sche Verhältnis dreht, ob tatsächlich noch ein wirklicher Blick “von außen” riskiert wird. Die Aufregung der Iris Radisch bleibt weiterhin nicht nachvollziehbar.
Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
Verlag: Gütersloher Verlagshaus; Auflage: 1., Aufl. (Februar 2009)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3579069985
ISBN-13: 978-3579069982
Quellen
Inge Jens – Ich sehe seinem Entschwinden zu – Onlinezusammenfassung des im Stern erschienen Interviews
Iris Radisch – Tilman Jens denunziert seinen Vater – Artikel auf Zeit Online